Chancen für die Seele

Kemptener Kinder- und Jugendpsychiatrie ist Anlaufstelle für Patienten aus dem ganzen Allgäu
Depressionen im Kindes- und Jugendalter sind gar nicht so selten. Die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Josefinum in Kempten kann helfen, dass sich eine aufkommende Erkrankung nicht verfestigt. Symbolfoto: KJF/Carolin Jacklin
13. November 2017

Denis hat Probleme in der Schule. Der Zehnjährige kann sich nicht richtig konzentrieren, stört ständig den Unterricht und verhält sich aggressiv gegenüber seinen Mitschülern. Auf Anraten der Lehrer und des Kinderarztes bringen die Eltern den Buben zur Diagnostik ins Josefinum Kempten. In der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie wird Denis umfangreich untersucht. Die Ärzte stellen fest, dass er nicht nur an der Zappelphilipp-Krankheit ADHS leidet, sondern auch an einer tiefer liegenden emotionalen Störung. Dank dieser Diagnose und der Kombination verschiedener Behandlungsformen kann seine psychische Erkrankung im Lauf der Zeit erfolgreich therapiert werden. Doch von seinen Freunden erfährt keiner davon, und auch in der Verwandtschaft soll es kaum jemand erfahren. Denis ist es unangenehm, über seinen Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu sprechen. Denn das Thema Psychiatrie ist in unserer Gesellschaft nach wie vor stark stigmatisiert.

 

„Es ist uns sehr wichtig, dass dieses Negativ-Image abgebaut wird“ sagt Dr. Harald Ribnitzky, leitender Oberarzt am Josefinum. Immerhin: Bei einem Viertel aller Kinder und Jugendlichen im Freistaat lag 2014 bei der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns die Diagnose einer psychischen Störung oder einer Entwicklungs­störung vor. Besonders häufig: Depressionen, ADHS, Teilleistungsstörungen und Essstörungen. Zunehmend häufiger: autistische Störungen.

„Seelische Erkrankungen, die bereits im Kindesalter oder bei Jugendlichen auftreten, müssen rechtzeitig und umfassend therapiert werden. Sonst werden diese chronisch oder führen zu Folgestörungen“, betont Ribnitzky. Das Josefinum in Kempten könne sich auch 20 Jahre nach seiner Gründung durch die KJF Augsburg nicht über Arbeitsmangel beklagen. Im Gegenteil: Die Nachfrage nach therapeutischer Hilfe sei groß, die Warteliste lang. „Das liegt zum Teil auch mit daran, dass die gesellschaftliche Aufmerk¬samkeit für dieses Thema deutlich gestiegen ist“, so der 51-jährige Facharzt. Zum anderen sieht er die gesamtgesellschaftliche Entwicklung mit kleineren Kernfamilien als wesentliche Ursache.

Vor 20 Jahren, als die Kemptener Kinderpsychiatrie gegründet wurde, war sie noch in einem Zweifamilienhaus in dem Immenstädter Straße beheimatet. Der Andrang war groß, es herrschte große Enge. „Die Kollegen mussten in einen Container im Hof ausweichen“, erzählt Ribnitzky. Schon wenig später erwarb die KJF mit einem Personalgebäude des ehemaligen des Bundeswehrlazaretts einen im Grünen gelegenen Standort, der nach Umbau Ende 2001 auch eine vollstationäre Behandlung ermöglichte. Der Bedarf an professioneller Hilfe für Kinder und Jugendliche mit seelischen Störungen stieg indes weiter.

Das Spektrum der Krankheiten, die heute im Josefinum behandelt werden, ist groß. Meist sind es emotionale Auffälligkeiten, Konzentrationsstörungen, Teilleistungsstörungen wie Sprachstörungen und Lese-Rechtschreib-Störung, die die Kinder und Jugendlichen in die Ambulanz der Klinik führen. „Rund 600 Fälle haben wir pro Quartal“, berichtet der leitende Oberarzt. Diese werden im Josefinum dann, je nach Schwere, ambulant behandelt oder in einer Tagesklinik, in der die jungen Patienten nachmittags behandelt werden, nachdem sie vormittags in der Schule waren. Oder es erfolgt eine stationäre Aufnahme, für die aktuell insgesamt 20 Betten zur Verfügung stehen.

Geht man durchs Haus, verströmen Gemeinschaftsräume und Zimmer eine sehr angenehme Atmosphäre, weit weg vom Grusel-Image einer psychiatrischen Einrichtung. Schließlich sollen kranke Seelen hier wieder ihr Gleichgewicht finden. Im Snoezelen-Raum etwa, einem gemütlichen, angenehm warmen Raum, in dem man bequem liegen oder sitzen kann und von leisen Klängen und Melodien und Lichteffekten umgeben ist, können die Kinder und Jugendlichen sich gegenseitig mit Igel-Bällen massieren. Erzieher, Psychologen, Fachtherapeuten, Erzieher und Sozialarbeiter sorgen dafür, dass alle sich so wohl wie möglich fühlen. Das Angebot für die Patienten umfasst verschiedene Therapieformen von der Kunst- bis zur Bewegungstherapie.

Besonders wichtig bei der Behandlung von Heranwachsenden sei es, das ganze Umfeld mit ein zu beziehen, sowohl Eltern als auch Geschwister, Freunde, die Schule, Ärzte und die ambulanten Hilfseinrichtungen. Nur dann sei langfristig ein Erfolg zu erwarten, betont Ribnitzky: „Wir müssen nicht nur gute Therapeuten sein, sondern auch gute Netzwerker“.
Die Stationen und die Plätze in der Tagesklinik sind das ganze Jahr über durchgehend voll ausgelastet. Die Wartezeit in der Ambulanz beträgt sechs bis zwölf Wochen. „Wir müssen jeweils nach der Schwere und Dringlichkeit des Falles entscheiden, wer vorrangig behandelt wird“, berichtet der leitende Oberarzt. „Akute Fälle werden von unserer Notfall-Ambulanz versorgt.“

Der Bezirk Schwaben hat die Betreuung seelisch kranker Kinder und Jugendlicher der KJF Augsburg übertragen. Die KJF betreibt daher in Schwaben drei Einrichtungen für Kinder und Jugendpsychiatrie: in Augsburg, Nördlingen und Kempten und darüber hinaus zwei weitere in Oberbayern. „Wir in Kempten versorgen das gesamte bayerische Allgäu und wir haben unsere Kapazitätsgrenze erreicht“, betont Ribnitzky. „Manche unserer Patienten bleiben Wochen, ja Monate hier.“ Die KJF plane deshalb eine Kapazitätserweiterung um fünf und langfristig um zehn weitere Betten, um dem steigenden Bedarf gerecht zu werden.